Wo sind Helene, Silly, Rammstein, Udo & Co. geblieben?

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Sie hören gern Schlager. Oder lieber Härteres wie Rammstein. In beiden Fällen haben Sie dazu sicher nicht Ihr Radio eingeschaltet. Dort verschwindet deutschsprachige Musik zugunsten englischer Titel immer mehr.

Joerg Stempel – Foto: Michael Handelmann

Undenkbar wäre in vielen Ländern, dass die eigene Muttersprache in den Musiktiteln im Radio kaum vorkommt. In Frankreich sind Radiostationen zum Schutz der einheimischen Kultur und Sprache sogar verpflichtet, mindestens 60 Prozent ihrer Sendezeit Produktionen europäischer Künstler zu widmen, darunter 40 Prozent mit französischen Interpreten. Das hat zur Folge, dass Künstler wie Kylie Minogue und Elton John ihre Titel extra auf Französisch aufnehmen, um ihre Chancen zu erhöhen, im Radio gespielt zu werden. Ist eine Quote in Deutschland denkbar? Dazu trafen wir jemanden, der sich mit einheimischer Musik so gut auskennt wie wenige andere. Bei zwei Interviewterminen in Cafés in Prenzlauer Berg berichtete Jörg Stempel von seiner Zeit als Programmgestalter bei Amiga, der DDRSchallplattenfirma für Rock-, Pop- und Schlagermusik. 20 Millionen Tonträger produzierte Amiga seit 1979 jedes Jahr. Er begleitete in den 70ern die Rockband Puhdys bei ihrer Tournee zu den Baustellen der DDR-Jugend an der Druschba- Erdgastrasse in der Sowjetunion. Später wurde er deren erster Manager. Nach dem Mauerfall arbeitete Jörg Stempel zunächst für BMG und später für Sony Music. Seit 1990 betreut der 69-Jährige dort den Amiga-Katalog, den er wie kein anderer kennt, und berät die Plattenbosse zu Neuveröffentlichungen.

Gerade gab es ein Jubiläum, das keiner feierte. Im Januar 1958, also vor genau 60 Jahren, trat in der DDR die 60:40-Musik-Regelung in Kraft. Was bedeutete diese Quote?

Im Radio, Fernsehen und bei öffentlichen Veranstaltungen wie Discos mussten 60 Prozent Titel aus dem SW, so die Abkürzung für „Sozialistisches Wirtschaftsgebiet“, gespielt werden.

Also nicht nur deutsche Musik?

Nein, man konnte z.B. auch die ungarische Rockband Omega spielen. Das war eine der erfolgreichsten Gruppen im Ostblock. Als Leiter eines Berliner Studentenclubs konnte ich mit der Band nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt in der DDR, der 1973 in der Kongresshalle stattfand, durch private Beziehungen einen Auftritt an der Hochschule für Ökonomie organisieren. Auch das erste Konzert der gemeinsamen Tour von Manfred Krug und Uschi Brüning konnte ich in unseren Hörsaal holen. Im Friedrichstadtpalast waren sie sauer, weil die Premiere ja dort stattfinden sollte.

Zurück zur 60:40-Regelung, nur 40 Prozent aller gespielten Titel kamen also aus dem Westen?

Aus dem „NSW-Gebiet“, so wurde „Nichtsozialistisches Ausland“ abgekürzt.

Und diese Quotierung wurde wirklich eingehalten?

Im Rundfunk und Fernsehen ganz sicher. Von zehn Auftritten in der Fernsehshow „Kessel Buntes“ kamen in der Regel nur vier aus dem Westen. Aber bei Discos – ich war ja auch als DJ aktiv – wurde zu 95 Prozent Westmugge aufgelegt. Bei Dorfdiscos ganz sicher. Ausnahmen waren ein paar Vorzeige-Lokale wie Joerg Stempel im Jugendtreff Palast der Republik. Dort musste man damit rechnen, dass sich „Kontrolleure“ im Publikum befanden und vielleicht mitzählten.

Was war der Grund für diese Quote in der DDR, der Schutz der einheimischen Musiker und ihrer Produktion?

Natürlich gab es auch ideologische Gründe. Was dabei aber leicht vergessen wird, ist, dass es vor allem eine ökonomische Frage war. Für die Westmusik mussten wir als Plattenfirma ja Devisen hinblättern, und die waren in der DDR knapp.

Warum war die einheimische Musik im Osten nicht sonderlich beliebt, sodass in den Discos fast nur Westmugge gespielt wurde?

Das stimmt so nicht. Es gab sehr beliebte Künstler und Bands wie die Puhdys, bei denen kein Album unter 200.000 Verkäufen lag, und so erfolgreiche Gruppen wie Karat, City und Silly. Der erfolgreichste Einzelkünstler war Frank Schöbel. In Discos braucht man allerdings Tanzbares mit einem durchgängigen Beat, und davon produzierten die DDR-Bands nicht genug. Es gab aber Ausnahmen: Wenn ich „Verdammt“ von Wolfgang Ziegler auflegte, war die Tanzfläche immer voll.

Wäre eine Quote für deutschsprachige Musik im Radio heute denkbar?

Da geht es um den Konflikt zwischen Kunstfreiheit und nationaler Identität. In den 90er-Jahren gab es Initiativen zum Schutz der einheimischen Produktion, für die sich Musiker wie Heinz-Rudolph Kunze und Herbert Grönemeyer engagierten. Doch die gesamte Rundfunklobby war dagegen. Da wurden Vergleiche zur DDR bemüht. Es galt als Totschlag- Argument, dass heute keiner eine ideologische Quotierung haben möchte. Die viel aktuelleren Quotenregelungen in Frankreich wurden komischerweise kaum als Vergleich herangezogen. In der Folge gründeten Künstler wie Westernhagen und Maffay eigene Rockland-Radiosenderketten.

Und wie sehen Sie die Zukunft einheimischer Musik?

Leider hört man landauf landab im Radio vorwiegend die Top-40. Langweilig. Aber es gibt Ausnahmen wie radioeins mit seiner spannenden Musikauswahl. In Berlin sind wir überhaupt mit einer sehr vielseitigen Radiolandschaft gesegnet. R.SA in Sachsen sendet auch deutsches Repertoire. Und generell ist es so, dass die Verantwortlichen auf den Markt eingehen. Allein unsere „Speerspitze“ Helene Fischer hat im Vorverkauf ja 90.000 Karten für ihre Tour abgesetzt.

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Deutsche Musik im Programm? Recherche bei drei Sendern

Deutschlandfunk Kultur bezeichnet sich auf Hörernachfrage als Sender mit einem der höchsten Anteile an nicht-englischsprachiger Popmusik. Laut Dr. Veronika Schreiegg, für die Musikplanung verantwortliche Redaktionsleiterin, gestaltet der Sender rund 35 Prozent seiner Musik mit Titeln „aus Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Skandinavien und vielen anderen Ländern“. Man beachte die Reihenfolge: nach 65 Prozent Titeln auf Englisch wird zunächst Frankreich genannt, erst an dritter Stelle kommt deutschsprachige Musik, obwohl der Sender „Deutsch“ sogar im Namen führt. Warum das so ist? „Bei deutschsprachigen Texten haben wir das Problem, dass sie das journalistische Programmumfeld oftmals ungewollt kommentieren. Stellen Sie sich vor, wir berichten über einen Selbstmordattentäter in Israel und im Anschluss daran läuft der Musiktitel ‚17 Millimeter fehlten mir zu meinem Glück’ von Lisa Bassenge. Keinesfalls wollen wir, dass uns ein pietätloser Fauxpas wie der genannte passiert“ – so wird der „sensible Umgang mit deutschsprachigen Titeln“ begründet. Aus zwei Gründen ist das nicht schlüssig: Würde es für Radiomacher wirklich ein Problem darstellen, müssten Hörfunksender in Großbritannien, USA und Australien nichtenglische Musik spielen, damit die Songs nicht unfreiwillig die Nachrichten kommentieren. Machen sie nicht. Außerdem ist anzunehmen, dass die Hörerschaft eines Kulturradios überdurchschnittlich gebildet und des Englischen mächtig ist. Hätte Dr. Schreiegg Recht, müsste sie also auch englische Titel sorgfältig aussuchen, um keinen „pietätlosen Fauxpas“ zu begehen und könnte genauso gut deutschsprachige Titel spielen. Diesen bleiben bei Deutschlandfunk Kultur mit der Tonart-Rubrik „Soundscout“ oder der wöchentlichen Tonart-Nacht „Chansons und Balladen“ nur Nischen.

20 bis 40 Prozent deutscher Titel laufen bei Antenne Brandenburg, so rbb-Unternehmenssprecher Justus Demmer. „Peter Fox, Zweiraumwohnung, Silly, Helene Fischer und viele weitere deutschsprachige Künstler“ sind da zu hören „und werden keineswegs vernachlässigt. Darüber hinaus gehören in unser Musikprofil auch italienische, spanische, französische Titel.“ Bei radioBERLIN 88,8 liegt der Anteil deutscher Titel bei etwa 20 Prozent. „Deutsche Vita“ am Mittwoch spielt ausschließlich Deutsches und stellt Nachwuchskünstler vor, was auch in der Hörer-Hitparade „Hey Music“ geschieht. Der viel gehörte Sender radioeins spielte 2017 im Tagesprogramm ganze sechs Prozent Deutschsprachiges. Er bringt laut Justus Demmer alternative deutsche Künstler, „die sonst von keinem anderen Sender in Deutschland gespielt werden: Balbina, Der Plan, Tocotronic, Vizedikator, Tomas Tulpe, Husten, Schnipo Schranke, Brett, Der Mann, Isolation Berlin etc.“ Bei der Jugendwelle Fritz laufen 25 bis 30 Prozent deutsche Titel. Und seit 2010 präsentiert Fritz mit den „Deutschpoeten“ jeden Sommer ein Festival mit ausschließlich deutschsprachigen Künstlern. Die Frage nach einer Quote für einheimische Musik stellt sich beim rbb nicht, „weil sie der Nutzungsgewohnheit des Publikums nicht mehr gerecht wird. Musik jeglicher Ausprägung ist heute umsonst oder preiswert für jeden individuell beziehbar. Durch das Internet und dessen zunehmende mobile Nutzung ist das Radio für Künstler nicht mehr essenziell, um auf sich aufmerksam zu machen – vor allem abseits des Massengeschmacks geht das in den internetbasierten Medien leichter.“

Die Übermacht englischer Musik in ihrem „Heimatsender“ MDR beklagen aktuell vor allem ältere Hörer in Thüringen. Sie machten ihrem Ärger Ende 2017 Luft, indem sie sich in einem offenen Brief an Ministerpräsident Bodo Ramelow und die Thüringer Landespolitik darüber beklagten, dass der MDR keine deutschsprachigen Schlager mehr spiele. Grund für die Umstellung auf vorwiegend Englisch sei der veränderte Musikgeschmack der Hörerschaft, so MDRPressechef Walter Kehr: „Die Generation der über 60-Jährigen hört vorzugsweise Pop und Rock der 60-er und 70-er Jahre.“ Laut Kehr würde eine Quote wie in Frankreich „zu einer Verarmung des Angebots führen. Edith Piaf, Gilbert Becaud, Adamo, Charles Aznavour, Gianna Nannini, Paolo Conte und Adriano Celentano wären bei uns dann unbekannt. Rammstein dürften bei uns nicht ihr ‚We all live in America‘ singen. Und Marlene Dietrich nicht ihr ‚Falling in Love again‘. Wäre schade drum.“

 

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