Die Geschichte der Heimatvertriebenen

Fotos: Markus Gröteke, Berlin

Dem Schicksal der rund 14 Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden, ist das neu eröffnete Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof gewidmet. Daneben versucht es, den Blick auf Flucht und Vertreibung zu erweitern.  

Der alten Dame hört man an der Stimme an, wie bewegt sie nach dem Besuch der Ausstellung ist. Sie stammt aus Ostpreußen und ist mit einer Gruppe von Senioren hier. Sie berichtet von den Treffen mit anderen Vertriebenen und deren Nachfahren: „Wenn wir in Ostpreußen mal zusammen sitzen, könnten wir uns noch wochenlang unterhalten. Und es kann sogar passieren, dass Du nach über 80 Jahren Fotos mit der eigenen Mutter darauf zu sehen bekommst, die Du noch nicht kennst.“ Ein Ehepaar kann sich gar nicht satt sehen an den Objekten einer nachempfundenen Heimatstube aus dem Altvatergebirge. „Achtung! Schlesier! Ich suche meine Angehörigen. Wer weiß etwas?“ steht auf dem gestochen scharf in Druckbuchstaben geschriebenen Schild eines Walter Kamenko aus Leipzig, der gerade „bei Hille“ wohnt, sicher weil er als Vertriebener noch keine eigene Wohnung hat. 

Für die meisten Schüler ist das Kapitel Vertreibung völlig neu 

Wer sich die Ausstellung im zweiten Obergeschoss des neuen Dokumentationszentrums ansieht, wird sofort erinnert an die unzähligen Berichte von Eltern, Großeltern, Verwandten und Bekannten. Fast jeder kennt jemanden, der selbst oder dessen Vorfahren vertrieben wurden, ob aus Schlesien, Ostpreußen oder dem Sudetenland. Ende 1947 lag der Anteil der Vertriebenen auf dem Gebiet der sowjetische Besatzungszone, später DDR, mit fast 4,4 Millionen Menschen und über 24 Prozent der Gesamtbevölkerung am höchsten. In der französischen Besatzungszone hingegen war er zu dieser Zeit mit rund 60.000 Personen und 1 Prozent vergleichsweise niedrig. Dass Millionen Deutsche in der Folge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verlassen mussten und das es auf der Flucht hunderttausende Todesopfer gab, haben viele der heutigen Kinder und Jugendlichen noch nie gehört. Als Jenny Baumann, im Dokumentationszentrum zuständig für Bildung und Vermittlung, vor kurzem die 11. Klasse einer Gesamtschule im Westen Berlins durch das Haus führte, erhielt sie gemischte Reaktionen. Die jungen Leute dachten, dass sie viel des hier Dargebotenen schon wussten, weil Krieg, NS-Ideologie und Holocaust im Unterricht behandelt wurden. Doch es stellte sich schnell heraus, dass das bittere Kapitel der Vertreibung für die meisten komplett neu war. Das stellt eine große Herausforderung für die Bildungsarbeit dar, so Jenny Baumann. Den Jugendlichen fiel es schwer, bei den vielen Informationen und Begriffen die Übersicht zu behalten. Sie lobten die „hochmoderne“ Technik. Damit meinten sie nicht nur die Erklärfilme und gut gemachten Landkarten-Animationen, sondern auch die Audioguides. Diese hält man an Stellen, die einen besonders interessieren, an so genannte Triggerpunkte heran, scannt sie und sofort startet ein Hörtext. 

Das neu eröffnete Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof | Fotos: Markus Gröteke, Berlin

„Boat People“ neben Balkan-Flüchtlingen 

Die Jugendlichen der Steglitzer Schulklasse fanden alles rund um das Thema Heimat besonders interessant. Was Heimat für sie selbst bedeutet? „Nicht von Anfang an ein Ort, sondern die Menschen“, so eine Schülerin, und auf die Frage, was sie nicht zurücklassen würden, antworteten alle: ihre Familie. 

Besonderen Eindruck machen die Filme mit Zeitzeugen in Lebensgröße, die über ihr Schicksal berichten, als ob sie direkt vor einem stünden. Da erscheinen zum Beispiel neben der in Mähren geborenen 90jährigen Christine Rösch aus München auch der 1992 aus Sarajewo geflohene Theaterregisseur Branko Šimić und eine Künstlerin aus Südvietnam, die 1981 mit den „Boat People“ nach Deutschland kam. Sie und andere berichten über ihre Flucht oder Vertreibung. Diese Installation befindet sich wie auch das Forum im ersten Geschoss. Die Ausstellung dort steht unter dem Titel „Eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen“ und sieht die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts als Ursache für eine minderheitenfeindliche Politik. Eine animierte Karte visualisiert die Veränderungen der Grenzen Europas von 1740 bis 2021. Neben der Teilung Oberschlesiens 1921 findet man den jugoslawischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre und den Zerfall von Österreich-Ungarn 1918. Und auch die bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen nach der Teilung von Britisch-Indien 1947 mit hunderttausenden Toten und 15 Millionen Deportierten und Vertriebenen werden thematisiert. 

Bei der Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ 1945 vor der pommerschen Küste durch die sowjetische Marine kommen rund 9.000 Flüchtlinge ums Leben. Es ist eine der verlustreichsten Schiffskatastrophen der Geschichte. Unweit der Ausstellungstafel, die sich damit beschäftigt, geht es um den Bürgerkrieg in Syrien und das weltgrößte Flüchtlingslager Zaatari. Seit 2012 finden dort Menschen aus Syrien Zuflucht. Zaatari entwickelte sich zur mittlerweile viertgrößten Stadt Jordaniens, in der rund 80.000 Menschen leben. 

Unter dem Themenschwerpunkt Recht und Verantwortung werden u.a. das Haager Abkommen und die Genfer Konventionen sowie die Arbeit von Suchdiensten und das Asylverfahren in Deutschland erklärt. Noch intensiver mit Flucht, Vertreibung und Versöhnung beschäftigen kann man sich in der Bibliothek und im Wandelgang. 

Geöffnet ist dienstags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr. Da Bibliothek und Zeitzeugenarchiv am Wochenende geschlossen sind, empfiehlt sich ein Besuch an einem Wochentag besonders. Der Eintritt ist kostenlos, allerdings muss man vorher ein Zeitfenster buchen. 

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